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Kirschblüten, wie besonders und bescheiden sie doch waren. Der zarte Duft, der in der Frühlingszeit erblühte, nagte sich in die Haare und schwebte überall in der Luft. Mal wieder saß ein kleines Mädchen in der hintersten Reihe im Klassenzimmer und starrte verträumt den blühenden Kirschbaum im Garten an. Dessen bräutliche Schönheit hatte sie vor Tagen verzaubert. Die prächtigen Zweige rankten um die Wette und die Bienen summten um die Krone des Baumes. In Vikkis Augen war er wahrlich wie die Braut des Königs aller Bäume.

„Hast du heute ihre Haare gesehen? Was für eine lächerliche Kleidung sie trägt?“ Das Geflüster der Schulkameraden warf Vikki zurück in das Klassenzimmer.

Camilla saß mit ihren Freundinnen nur ein paar Sitzplätze weiter, doch auch aus solch einer Distanz hörte Vikki das stechende Getuschel über sie. Mal passten ihre Schuhe nicht. Mal hat sie sich daneben benommen. Mal war ihr Haargummi gelb statt schwarz. Und ja, selbst dann zögerten ihre Kameraden nicht, hinter ihrem Rücken zu flüstern und sich über solch alberne Kommentare lustig zu machen. Vikki fühlte plötzlich etwas Schweres um ihr Herz. Etwas, was sich wie ein schwerer, undurchdringlicher Umhang anfühlte. Waren es die Zweifel, die ihr die positiven Gedanken raubten? Eins war ihr bewusst: Sie würde nie gut genug in den Augen der anderen sein.

Wieder drehte Vikki ihren Blick in Richtung des Baumes. Doch jetzt sah sie nur eine andere Seite. Die ungleichmäßigen Wurzeln starrten aus der Erde wie giftige Schlangen. Die braunen Zweige vergifteten die zarten Blüten und ließen sie klein und zerbrechlich wirken. Die knorpelige Rinde sah wie der faltige Arm eines bösen, alten Zauberers aus, den Vikki einmal im Kino gesehen hatte.

„Camilla, ihre Mutter sieht noch schlimmer aus“, spottete Arisa und schnitt eine Grimasse, in der sie ihre Augen aufriss: „Ich war im Kino und habe das Mütterchen mit dem Töchterchen zufällig auf der Straße getroffen. Mir war es peinlich, sagen zu müssen, dass sie aus unserer Klasse ist.“ Kichernd warf sich Camilla nach hinten und lachte laut auf. Vikkis Herz sprang in ihren Hals. Sie fühlte ihr Blut in allen Adern pumpen und spürte, wie es mit jeder Sekunde heißer wurde. Dass Camilla mit ihren Schleimern jetzt auch über ihre Familie sprach, war das Letzte, was sie sich anhören wollte. In Vikkis Bauch brütete ein Stierkampf und sie wusste, dass die nächsten Worte aus Camillas Mund wie rote Tücher fallen würden: „Aber erzähl mal, wie sah ihre Mutter so aus? Besoffen? Mit billigen Klamotten?“ Lachend schnappte Camilla abermals Luft. Vikki sprang auf. Das laute Lachen drückte auf ihre Ohren, brachte ihre Wut nun vollständig zum Überlaufen.

Ihre Klassenkameraden wussten nichts! Sie wussten rein gar nichts!

„Camilla“, Vikkis harte Stimme hallte durch das Klassenzimmer und das Lachen der Mitschüler verstummte augenblicklich. Sie alle waren gespannt, was als Nächstes passieren würde. Ja, Vikki selbst war gespannt, was Camilla machen würde.

Das Mädchen stand auf und schlenderte gelassen in Vikkis Richtung. Sie trug ein gelbes Kleid, eines, das Vikki an die schönen Sommertage in Thailand erinnerte. Eines, das in die Lieblingsfarbe ihrer Mutter getaucht war. Camilla ließ ihre gebräunten Arme locker hängen, doch ihre großen Augen und herzförmigen Lippen verdeutlichten ihr Selbstbewusstsein. „Was willst du?“. Vikki fühlte die große Bewusstseinsblase wie ein Stein auf ihrer Haut. Sie wusste, dass sie sich nie so stark fühlen könnte wie Camilla, denn ihre Ausstrahlung glich der Sonne und es war schwer, sich überhaupt mit der Sonne zu vergleichen, wenn man selbst so unbeachtet und vergessen wurde, wie es manchmal mit dem Mond geschah.

Die gelbe Farbe von Camillas Kleid stach in Vikkis Augen und ihre Gedanken schweiften zu ihrer Mutter, ihrer schönen, tapferen Mutter. Vikki erinnerte sich daran, wie ihre Kindheitsliebe vor einem halben Jahr im Krankenbett lag, mit trockenen Lippen und kraftlosen Händen. Ein rosa, blühender Zweig in der Vase stand neben ihrer kranken Mutter. Die zarten Blüten, wie kleine Hoffnungsschimmer in einem Raum, der von Sorgen umhüllt war. Sie wusste, dass gleich unter der schön verzierten Vase die langen, blonden Haare versteckt waren. Die Haare, die ihre Mutter, Hüterin der Herzen, vor Wochen hatte abschneiden lassen.

Doch das, was Vikki nie in ihrem ganzen Leben vergessen konnte, waren ihre letzten Worte. Die schwache Stimme mit den hellen Worten: „Sei freundlich, egal zu wem, denn das ist der Schlüssel zu deinem und aller Frieden.“ Dann wurde der Atem der Mutter schwer und ihr Herz schlug immer langsamer, wie eine abgebrannte Kerze, deren Flamme erlosch.

„Was willst du von mir, Viktoria?“ Camillas Stimme schnitt wie ein Messer in die butterweiche Welt, in der Vikki gerade war. Sie strömte eine arrogante Energie in die Klasse aus. Doch obwohl Vikkis Blut kochte und ihre Stimme zu schreien wagte, auch wenn ihr Herz bis zum Hals schlug und ihre Beine schmerzhaft am Boden klebten, wollte sie nicht auch nur ein einziges negatives Wort oder einen so arrogant klingenden Spruch von sich geben, wie Camilla es tat. Also schwieg sie, die Gedanken sortierend.

„Kaum zu glauben!“, lachte Camilla spöttisch auf und schaute sich in der Klasse um. „Sie braucht mal wieder ein bisschen Aufmerksamkeit von uns, Leute. Wieso geben wir ihr sie nicht einfach?“ Sarkastisch beugte sich Camilla nach vorne: „Ach, Vikki, meine Liebe! Dein Oberteil ist ja so schön. Aus dem Mülleimer?“ Camilla zog das extra lang, sodass es ironisch und voller Abscheu klang. „Ich finde dein Haar heute unglaublich edel frisiert! Keinen Kamm gefunden?“ Arisa kniff ihre Augen vor Lachen zusammen und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Vikkis Augen füllten sich mit Tränen. Wie kann man bloß mit seinen Mitmenschen so umgehen? Was musste man als Mensch alles gesehen und gedacht haben, um solche unmoralischen, skrupellosen Taten zu begehen, dass das Empfinden für Mitgefühl verloren ging? Viktoria wusste nicht, wie sie diese zerstörerische Energie vernichten und stoppen konnte. Doch dann erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter und hob ihren Kopf.

„Camilla, ich möchte, dass du weißt, wie sehr ich dein Kleid mag, auch wenn du meinen Stil verabscheust. Gelb war nämlich die Lieblingsfarbe meiner Mutter. Außerdem solltest du wissen, was für ein Glück du hast, eine Mutter zu haben, die dich umarmt und für dich da ist, wenn du traurig bist.“ Viktoria strich sich die Tränen von den Wangen, denn die Erinnerung an die Umarmungen mit ihrer Mutter wärmten ihr das Herz. Vikki war stark und eine Siegerin. Niemals würde sie es wagen, dass andere schlecht über ihre Mutter reden. Viktoria bemerkte schnell, wie verdutzt die Klasse plötzlich auf sie blickte. Selbst Camilla verschlug es die Sprache, denn ihre großen braunen Augen blickten verdutzt und mit einem kleinen Schimmer von Respekt in ihre Richtung. Als wüsste sie nicht, was sie nun machen soll. Normalerweise schrien ihre Opfer sie an, sagten ihr, wie sehr sie Camilla und die Klasse hassten, doch das eine Mädchen, sie machte ein Kompliment, nach solch einer Demütigung. Doch von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich die verdutzte Camilla in eine wütende Furie. Ihre Augen blitzten gefährlich und die schöne gebräunte Haut wurde dunkler, so wütend war sie, und aus Angst, ihren Respekt in der Klasse zu verlieren. Camillas Gesicht näherte sich Viktorias und sie kniff ihre Augen abschätzend zusammen: „Das ist doch ein blöder Witz!“

„Nein.“ Vikki kniff mitleidig ihre Augenbrauen zusammen, „Ich meine es ernst. Ich finde es ehrlich gesagt schade, wie angegriffen du dich durch ein Kompliment fühlst.“ Viktoria schaute tief in Camillas Augen. Irgendwo im tiefen Braun sah sie einen kleinen Zweifel versteckt, versteckt in der ganzen honigfarbenen Iris-Struktur.

„Camilla, ich bewundere dein Selbstbewusstsein, deine Energie, mit der du die Leute anziehst.“ Vikki schaute ihrer Klasse entgegen, die vollständig hinter Camilla stand, „Ich könnte sagen, dass ich diese Klasse hasse, dass ich keine Mutter mehr habe und dass ich von euren Worten getroffen bin, aber ich beneide euch, für eure Freundschaften, eure Stärke und Ausstrahlung. Denn ich rede am liebsten gut.“ Die Stille breitete sich wie ein ruhiges Gewässer aus. Es war, als ob die Worte selbst die Atmosphäre beruhigten und einen Moment der Reflexion schafften. In dieser Stille schwang die Bedeutung der positiven Kommunikation nach, in dem die Kraft der Worte spürbar wurde. Camilla lachte dennoch ironisch auf und drehte sich ihrer Klasse zu: „Habt ihr das gehört? Wahnsinn, sie könnte glatt eine Geschichtenerzählerin werden!“ Doch als ihr Sätze wie „Sie hat schon irgendwie recht“ und „Sag mal, ist dir nicht aufgefallen, wie nervig die ganze Negativität ist“ an den Kopf geworfen wurden, fügte Camilla hastig hinzu, „Ich habe die Nase voll, von … von ihr. Ich … ich habe keine Zeit für weitere Diskussionen.“

Viktoria und die Klasse sahen, wie Camilla das Schlachtfeld ohne weitere Kommentare verließ. Jeder blieb sprachlos. Denn eine angenehme Stille füllte den leeren Platz Camillas. Viktoria ließ ihren freundlichen Blick über die Klasse schweifen, der dann aber am Kirschbaum im Garten hängen blieb. Sie sah, wie Blüten langsam zu Boden sanken, als würde der Baum Viktoria etwas sagen wollen. Doch sie musste überhaupt nicht darüber nachdenken, was der Kirschbaum wohl zu flüstern wagte. Denn die Stimme ihrer Mutter pochte in ihrem Herzen, durch ihren ganzen Körper, bis hin zu ihrer Zunge: „Wenn man spricht, dann am liebsten gut. Das ist der Schlüssel zum Frieden.“