Die moderne Pädagogik IN EINEM Bild von 1906

Viele Menschen denken nicht sofort an Kunst oder Archäologie, wenn es um das Osmanische Reich geht. Zumindest wurde mir dieser Bereich erst auf meiner Reise nach Istanbul nähergebracht. Es gibt viele Museen im Herzen Istanbuls, und in vielen Kunstmuseen wird fast immer ein Name großgeschrieben: Osman Hamdi Bey. Er zählt zu den wichtigsten Künstlern in der Geschichte der Türkei. Daneben war er auch ein Vorreiter der türkischen Archäologie. In seinen Werken sieht man nicht nur seine künstlerischen Fähigkeiten, sondern auch die moderne Pädagogik widergespiegelt.

Zur Person:

Osman Hamdi Bey wurde 1842 in Istanbul geboren und wuchs dort auf. Nach der Schule ging er nach Paris, um ein Jurastudium zu beginnen, und blieb 12 Jahre dort. Neben dem Studium beschäftigte er sich auch mit Kunst. Mit 27 Jahren kehrte Osman Hamdi Bey ins Osmanische Reich zurück, wo er in Bagdad in der Protokollabteilung und bei den ausländischen Angelegenheiten mitwirkte. 1881 wurde er Leiter des heutigen Archäologiemuseums, das als erstes Museum in der Geschichte der Türkei gilt. Er und sein Team machten großartige Entdeckungen in der Türkei. Dank ihm wurden ab dieser Zeit die Exporte der Entdeckungen ins Ausland gestoppt und konnten für die kulturelle Entwicklung und das Erbe (Miras) bewahrt werden.

Der Schildkrötenerzieher

Sein wohl bekanntestes Werk ist „Der Schildkrötenerzieher“, das im Jahr 1906 erstmals in Frankreich ausgestellt wurde. Heute befindet es sich im Pera-Museum in Istanbul, an das es 2004 für 3,5 Millionen Dollar verkauft wurde. Auf dem Bild steht ein älterer Mann in einem roten Gewand vor einem Fenster, wobei man nicht erkennen kann, ob es sich um eine Wohnung, eine Moschee oder eine Schule handelt. Laut Historikern ist es die grüne Moschee in Bursa. Auf dem Boden krabbeln fünf Schildkröten in verschiedene Richtungen, die zwischen Grünzeug wandern. In der Hand hält er eine osmanische Flöte, genannt Ney, oder einen Schlägel, der mit der Trommel an seinem Rücken zusammenhängt. An der Wand steht: „Der Trost der Herzen ist es, den Geliebten (Muhammed) zu treffen“ (Eldem 2012, S. 350).

Analyse aus pädagogischer Sicht

Es gibt unzählige Interpretationen des Bildes. In diesem Artikel möchte ich mich auf die pädagogische Perspektive dieser Darstellung konzentrieren. Um von Erziehung sprechen zu können, braucht man einen Erzieher/eine Erzieherin, eine/-n zu Erziehende/-n, Erziehungsziele, eine Erziehungsmethode und Erziehungsprinzipien (vgl. Beyer 2010, S. 146). Wir betrachten lediglich die ersten vier Aspekte.

Der Erzieher ist der alte Mann in roter Kleidung. Man kann stark davon ausgehen, dass er ein Derwisch ist, jedoch gibt es dafür keine Belege. Er hat eine ruhige und abwartende Haltung und beobachtet nur die Schildkröten. Sein Instrument lässt vermuten, dass er mit Musik die Schildkröten beeinflussen möchte, ähnlich einem Schlangenbeschwörer. Obwohl er mit seinen Händen das Instrument hält, spielt er keine Musik. Die zu Erziehenden im Bild sind ganz klar die Schildkröten, die in verschiedene Richtungen schauen. Man geht also davon aus, dass die Schildkröten dem Erzieher noch nicht die notwendige Aufmerksamkeit schenken, die für die Erziehung erforderlich ist. Schildkröten zu erziehen ist eine schwierige Sache, da sie sehr langsam und träge sind. Was genau die Erziehungsziele des Erziehers sind, können wir auf dem Bild nicht sehen. Man sieht ein offenes Fenster, das Freiheit symbolisiert. Ein wichtiges Ziel heutzutage ist, die zu Erziehenden zu gesellschaftsfähigen, selbstständigen und mündigen Menschen zu formen. Der Erzieher möchte die Schildkröten für die Außenwelt vorbereiten und sie dafür erziehen. Welche Schwierigkeiten in der Außenwelt für die Schildkröten existieren, sehen wir leider nicht und können daher das Erziehungsziel nicht konkretisieren.

Dennoch wird die Erziehungsmethode deutlich: Die Aufmerksamkeit auf den Erzieher sieht man nur bei drei Schildkröten. Der Erzieher bleibt jedoch ruhig und übt keine Macht aus. Durch seine Haltung erkennt man dennoch eine Autoritätsperson, die durch die verdeutlicht wird. Er beobachtet die Schildkröten und greift nicht von oben ein. Er zwingt die Schildkröten nicht, in einer Reihe zu stehen, auch wenn sie keine Ordnung zeigen. „Es zeigt sich also eine Gesellungsform, die abweichendes Verhalten toleriert.“ Für die Zeit von 1907 war dies keine übliche Erziehungsform. Bei der Erziehung sind Erziehungsziele natürlich grundlegend, dennoch macht jeder Erzieher die Erfahrung, dass die Ziele abweichen können. Wichtig hierbei ist, dass der Erzieher überprüft, ob die Ziele, Methoden und Bedingungen passend für den zu Erziehenden waren. Dies kommt auch im Bild zum Ausdruck. Der Erzieher kann überlegen, bei wem die Ziele erreicht worden sind und wie er die Schildkröten noch erziehen könnte, und macht eine detaillierte Beobachtung, die als Grundlage für die Diagnose und Förderung der Schildkröten dienen soll.

Wichtig für das Erziehungsverständnis des alten Mannes ist die Schrift an der Wand: „Der Trost der Herzen ist es, den Geliebten (Muhammed) zu treffen.“ Bezieht man diesen Satz auf die Erziehung, so wird eines deutlich: Erziehung findet nicht an einem Tag statt. Erziehung ist ein langwieriger Prozess, bei dem man viel Geduld haben muss. Man darf nicht sofort frustriert sein, wenn die Erziehungsziele und Methoden nicht erreicht werden. Dieser Satz an der Wand gibt dem Erzieher Trost, dass er bei einem aufrichtigen Leben den Geliebten Propheten treffen wird. „Der Trost, die Aussicht auf ein Treffen mit dem Propheten Muhammed, ist es dann, der es ihm ermöglicht, diese Geduld aufzubringen und mit der Offenheit der Situation umzugehen.“

Fazit

Die pädagogische Perspektive des Bildes „Der Schildkrötenerzieher“ von Osman Hamdi Bey ist nur eine Interpretationsmöglichkeit. Dennoch zeigen sich wichtige Elemente und Aspekte der modernen Pädagogik. Erziehung ist kein Zaubertrick, der sich in Sekunden umsetzen lässt. Viele Erziehungsziele von Erzieherinnen und Erziehern werden nicht beim ersten Mal oder sogar nie erreicht. Im ersten Moment mag das frustrierend sein, jedoch sollte man die geduldige, beobachtende und ruhige Art nicht verlieren und regelmäßig über die Erziehungsprozesse reflektieren.